Glauben denken - Jahre mit Benedikt

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Vortrag im Rathaus von Pentling anlässlich des zehnten Jahrestages
der Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst (2005)

Von Wolfgang Beinert ©


   Die erste persönliche Begegnung war eigentlich keine wirkliche Begegnung. Wir stehen im Spätherbst 1962. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte gerade begonnen. Mit einem Paukenschlag. Er hatte wenigstens den ganzen katholischen Erdkreis aufgeschreckt. Doch davon später. Noch ging es ziemlich friedlich zu. Der Rektor des Collegium Germanicum et Hungaricum hatte alle deutschsprachigen Teilnehmer an der großen Kirchenversammlung zum Mittagsmahl eingeladen, nicht nur die Bischöfe, sondern auch die so genannten Periti, die theologischen Sachverständigen, welche die Bischöfe mitbringen durften. Solche Festpranzi waren in jenen Zeiten eine ziemlich anstrengende Sache, die man nur in der sicheren Hoffnung auf die nachfolgende Siesta mit Anstand über die Runden bringen konnte. Dieses Mal war es anders. Wir Studenten, an die 120 aus ganz Mitteleuropa, standen im Innenhof des Kollegspalazzo alle beisammen. Wir wollten unsere Oberhirten sehen, denen nun eine weltumspannende Verantwortung zugewiesen war. Wir wollten auch ihre Mitarbeiter sehen, denen sie konkret ebenfalls weitgehend zufallen würde. Wir wollten vor allem einen sehen, dessen Ruhm damals in der deutschen Theologie weit verbreitet war. Er stand ins Gespräch vertieft mit einigen Kollegen: Ein zart gebauter, eher zierlicher Mann mit einer mächtigen weißen Mähne, die zu dem jungen frischen Gesicht nicht so recht zu passen schien. Die Germaniker waren schon immer recht nüchterne Leute. Mochte für die anderen Katholiken ein leibhaftiger Bischof so selten ansichtig werden wie ein Komet am Firmament, in der Ewigen Stadt liefen sie einem allenthalben über den Weg. Der eine oder andere war auch immer wieder einmal zu Gast in unserem Haus. Einen Bischof empfanden wir nicht als etwas Besonderes. Das hat sich fürs ganze Leben eingeprägt. Auch theologische Koryphäen gingen ein und aus; sie hielten uns Hintergrundvorträge und standen in offenen Gesprächen Rede und Antwort. Das waren wir gewohnt. Jetzt aber bildete der junge Bonner Theologe, den der Kardinal Frings aus Köln mitgebracht hatte, den heimlichen Mittelpunkt der Anwesenden. Wir waren uns klar. Das ist jemand Besonderer!

   Joseph Ratzinger war damals gerade einmal 35 Jahre alt, für Leute seines Zeichens verboten jung. Der Nestor der deutschen Dogmatik, der ebenfalls berühmte Münchener Theologe Michael Schmaus, nannte ihn etwas bissig einen "theologischen Teenager". Aber der hatte damals nicht nur ein viel beachtetes wissenschaftliches Oeuvre vorzuweisen, sondern bereits Kirchengeschichte geschrieben. Die römische Kurie hatte von Anfang an scheel auf die Versammlung geblickt. Sie erwartete sich nicht viel mehr als eine Störung im geheiligten Betriebsablauf der Organisation Vatikan. Sie erschien ihr überflüssig wie ein Kropf. War denn nicht alles in bester Ordnung in der Kirche? Pius XII., im Oktober 1959 verblichen, hatte ein Schifflein Kirche hinterlassen, welches zwar mit heftigen Wogen zu kämpfen hatte, die von außen her ins Boot hinein schwappten: Wir stehen damals auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und es war alles andere als ausgemacht, ob er nicht gerade in Italien entschieden werden würde. Das Land stand unter erheblichem kommunistischen Einfluss und keiner konnte vor den zahlreichen Wahlen voraussagen, ob nicht dieses Mal die Roten endgültig an die Macht kommen würden. Doch zum Gegensteuern war natürlich ein Konzil nicht das geeignete Mittel. So etwas war für kirchliche Binnenprobleme gedacht. Eben die aber gab es offensichtlich nicht. Im übrigen schien nach dem später Erstes Vatikanisches Konzil genannten Ereignis von 1870 eine universale Bischofsversammlung auch dann unnötig, wenn es solche Probleme gegeben hätte: Der Papst hatte alle Kompetenzen, um aus eigenem Antrieb und mit eigener Kraft damit fertig zu werden. Ein Dekret genügte - und alle Fragen wären perfekt und unfehlbar gelöst. Nun hatte aber eben Johannes XXIII., der neue Papst, keine hundert Tage nach Amtsantritt am 25. Januar 1959 das Konzil ausgerufen und ihm als Marschzahl aggiornamento vorgegeben - Erneuerung der Kirche auf den Stand der heutigen Problemlage. Die Kurialen verstanden es, wenn es schon nicht vermeidbar war, höchstens als eine Putz- und Polieraktion: Manche althergebrachten Lehren der Kirche mochten vielleicht ein wenig angestaubt erscheinen. Mit einem guten pastoralen Silberputztuch ließen sie sich schnell auf Hochglanz bringen. Die Vorbereitungsarbeiten liefen ganz in diesem Sinne ab. Die erstellten Vorlagen (Schemata) waren völlig durchdrungen von dem drögen Geist der Neuscholastik, die ohne jeden Kontakt mit dem zeitgenössischen Denken wiederkaute, was große Geister im 13. Jahrhundert vorgekaut hatten. Ihre Autoren waren ausnahmslos die Professoren der römischen päpstlichen Universitäten, berühmt weniger für ihre wissenschaftlichen Gedanken als für ihre blinde Treue zum Heiligen Stuhl. Sie sollten auch in die Kommissionen kommen, die während des Konzils die vorbereitenden Arbeiten zu machen hatten, vergleichbar den Ausschüssen in einem Parlament.

   Dagegen aber setzten sich gleich am ersten Arbeitstag die französischen Bischöfe mit Kardinal Achille Liénart von Lille und die deutschen mit Kardinal Joseph Frings an der Spitze energisch zur Wehr. Der Kölner Erzbischof war schon hochbetagt und außerdem erblindet. Die Rede, die er gegen die kurialen Machenschaften halten wollte, schrieb ihm sein Peritus in glänzendem Latein. Der Kardinal lernte sie auswendig und trug sie mit Leidenschaft in St. Peter vor. Frenetischer Beifall am Ende der Rede. "Wir haben jetzt gemerkt, dass wir keine Horde von Schuljungen, sondern ein Konzil sind", schrieb ein amerikanischer Bischof in sein Tagebuch. Die Listen wurden neu gemacht - kaum ein Stein blieb auf dem anderen. Das Konzil hatte seinen ureigenen Kurs gefunden. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass Joseph Ratzinger im Oktober 1962 die Weichen der ganzen Kirchengeschichte wesentlich mitgestellt hat. Das blieb kein einzelner Akt: Seine Handschrift findet sich in einer zentralen überlegung des Vaticanum II, nämlich in der Frage der Stellung der Bischöfe im Zusammenklang wie im Gegenüber zum römischen Papst. Diese war 1870 offengeblieben. Man hatte alles über den Papst und fast nichts über die Bischöfe gesagt - richtiger: sagen können. Wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich wurde das Konzil abgebrochen. Die Papstdogmen konnten noch verabschiedet werden, die vorbereitete Doktrin über die Bischöfe nicht mehr. Das Schifflein der Kirche bekam dadurch in der Folge eine Schlagseite, die das Folgekonzil beheben sollte. Ratzinger hat in der Ausarbeitung des Begriffs vom Bischofskollegium wesentliche Beiträge geliefert, die in die Kirchenkonstitution Lumen gentium eingegangen und Lehrgut der Kirche geworden sind.

   Sieht man einmal von der durch Michael Schmaus repräsentierten Generation der älteren Theologen ab, so erfreute sich der bayerische Gelehrte aus Bonn aller Hochachtung - so sehr, dass nach jenem Pranzo selbst die abgebrühten Germaniker sich nicht recht trauten, ihn so einfach einmal anzusprechen. Der Konzils-Coup hatte sie natürlich noch sehr vermehrt. Die erste Begegnung war also Nähe-rung aus großer Distanz. Es vergingen dann vier Jahre, ehe ich Joseph Ratzinger wiedersah. Nach meiner Promotion über ein ökumenisches Thema, an der Gregoriana noch eine Seltenheit, war ich in den Dienst der Erzdiözese Bamberg zurückgekehrt und hatte wie üblich als Kaplan Seelsorgeaufgaben zu erfüllen, insgesamt in drei Pfarreien, zuletzt in der Großstadt Nürnberg. Meine Dissertation war von Papst Paul VI. persönlich mit einer Goldmedaille ausgezeichnet worden. Von verschiedenen Seiten legten mir Theologen nahe, doch mein wissenschaftliches Studium weiterzuführen. Eines Tages trug ich dem Bamberger Erzbischof Josef Schneider, er war ehedem Professor für Moraltheologie gewesen, entsprechende Gedanken vor. Schon damals sprach man von Priestermangel, und die Frei-gabe zum Studium bedeutete für ihn faktisch den Verlust eines künftigen Pfarrers. In der eigenen Diözese würde er ihn nie wiedersehen. So konnte er sich nicht leichthin die Genehmigung abringen. Es sei denn, räumte er ein, ich würde auch, wie er selbst, Moral studieren. Mir fuhr ein Schrecken durch die Glieder. Ich hatte dieses Fach in Rom erlebt als Ansammlung seltsamer Vorschriften und meist schwer sanktionierter Gebote. Da wurde diskutiert, ob es die eucharistische Nüchternheit, damals streng eingeschärft, bräche, wenn man bei Nasenbluten das eigene Blut verschlucke. Antwort: Wenn es durch die eustachische Röhre, also im Innern des Mundes abfließt, nein, wenn über den Mund, dann ja. Mit solcher Rabulistik wollte ich mein Dasein nicht fristen. Ich wollte Dogmatik, die Mitte christlicher Theologie, studieren. Nun, meinte der Erzbischof, das würde er nur dann erlauben, wenn Professor Ratzinger die Habilitation betreuen würde.

   Warum nicht? Ich nahm Kontakt mit Tübingen auf, wohin er im Frühjahr 1966 berufen worden war. Umgehend erhielt ich eine freundliche Einladung und saß an einem Sommertag des gleichen Jahres im Arbeitszimmer seines Hauses am Rand der Stadt nahe der Herrenberger Straße. Wir wurden schnell handelseinig. Schon auf dem Konzil hatte sich gezeigt, dass Ratzinger kein Freund der Neuscholastik war, deren dürren Rationalismus er verabscheute. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf die so genannte Monastik gerichtet, die mit der Hochscholastik des 13. Jahrhunderts gleichzeitige theologische Denkrichtung, die sich dem göttlichen Geheimnis aber nicht so sehr diskursiv als kontemplativ zu nähern suchte - etwa durch ausführliche Betrachtung der Heiligen Schrift. Ihre Werke lagen zwar generell gedruckt vor, aber es gab kaum jemanden, der sich damit wirklich beschäftigte. So richtete er die Frage an mich, ob ich nicht die Ekklesiologie, die Lehre von der Kirche, von drei miteinander zusammenhängenden Gelehrten des Hochmittelalters bearbeiten wolle - es handelte sich um Rupert von Deutz, einen Benediktiner aus der jetzt kürzlich erst aufgelösten Abtei Siegburg bei Bonn, um Gerhoch von Reichersberg, einen Augustinerchorherrn aus dem gleichnamigen Innkloster, sowie um Honorius Augustodunensis, einen äußerst geheimnisvollen Mann, der ganz im Verborgenen gelebt, aber eine breite literarische Tätigkeit entfaltet hatte: Er versuchte dem Seelsorgeklerus das Gesamtwissen der Zeit zu vermitteln. Höchstwahrscheinlich hat er in Regensburg gelebt, und zwar als Inkluse in Weih Sankt Peter, dem kleinen Kirchlein gegenüber dem Hauptbahnhof.

   Damit war für meine Beschäftigung für die kommenden dreieinhalb Jahre gesorgt. Ich musste das Ergebnis der Unterredung nur noch meinem Erzbischof mitteilen, der es anstandslos akzeptierte, und eine Bleibe in der Universitätsstadt am Neckar finden. Eine Frauenkongregation hatte damals gerade ein Wohnheim für Studentinnen errichtet und dort auch eine Wohnung für einen Spiritual und Hausgeistlichen vorgesehen. Diese bekam ich angeboten - und nahm sie mit Freuden an. Mit Beginn des Wintersemesters 1966/67 siedelte ich um. Das Haus lag nur wenige hundert Meter Luftlinie von der am Berghang gelegenen Wohnung Ratzingers entfernt. An jedem Morgen, an dem er im Lande war, kam er mit seiner Schwester Maria herunter und wir feierten in Konzelebration die Hl. Messe. Bis auf die allerletzte Strecke hatten wir überdies den gleichen Weg zur Universität. Wir haben ihn oft und oft gemeinsam zurückgelegt. Auf diese gewiss einzigartige Weise habe ich beinahe täglich den engs-ten Kontakt mit ihm haben können, wie er nur wenigen vergönnt war, einen Kontakt, der nicht nur akademisch, sondern mehr noch spirituell gewesen ist - schließlich feierten wir gemeinsam das zentrale Mysterium unseres Glaubens. Ratzinger ist nicht eben ein Mann des offen gelegten Herzens. Er sprach niemals über sich, seine Anschauungen oder gar Gefühle. Umso freimütiger gab er sein Urteil über die kirchliche Situation ab. Er war ganz erfüllt von den Impulsen, die er auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekommen hatte. Er gehörte dem fortschrittlichen Flügel des Tübinger theologischen Professoriums an. Eine enge Freundschaft verband ihn mit Hans Küng. Der Schweizer war der Inhaber des anderen dogmatischen Lehrstuhls, auch er in voller Kraft (Jahrgang 1928, also ein Jahr jünger als Ratzinger), auch er weltberühmt. Gegen den Widerstand einiger Kollegen hatte er erfolgreich durchgesetzt, dass Ratzinger, der mittlerweile in Münster lehrte, an den Neckar berufen wurde. 1967 veranstaltete die Fakultät ein großes Fest: Sie hatte zwar schon seit Uni-Gründung im Jahr 1477 bestanden, war dann aber in der Reformationszeit evangelisch geworden. Als Württemberg im Rahmen der napoleonischen Neuordnung Europas ein Königreich wurde, errichtete der neue Herrscher für seine katholischen Landeskinder eine theologische Ausbildungsstätte in Ellwangen an der Jagst. Das war 1817, von 1967 aus gesehen also vor exakt 150 Jahren. Ratzinger war mittlerweile Dekan geworden und die Verantwortung für das Fest lag in seinen Händen, eingeschlossen der abendliche Umtrunk der Dozenten und Studenten. Er entledigte sich aller Aufgabe mit Verve, eingeschlossen das Anzapfen des Bierfasses am Abend. Das hatte dem stillen, kleinen Professor eigentlich niemand wirklich zuge-traut. Doch die bayerischen Gene wirkten perfekt: Der Verdacht kam auf, Ratzinger habe sein Praktikum als Student auf dem Oktoberfest abgeleistet.

   Das sind Erinnerungen an eine Idylle, die alsbald unter schrecklichen Umständen zerbrach. Das Jahr 1968 ist in mancherlei Weise zum europäischen Schicksalsjahr geworden. Die Merkworte haben noch immer die Zeitzeugen von damals präsent: Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei mit akuter Gefahr des dritten Weltkriegs, Veröffentlichung der Enzyklika "Hu-manae Vitae" mit beginnender Kluft zwischen Gläubigen und "Amtskirche" - und die Studentenrevolution. Die Bildungstradition eines halben Jahrtausends drohte unter dem "Ho-Ho-Ho-Tschi Minh"-Gröhlen fanatisierter Jugendlicher zu versinken. Aus den stolzen deutschen Ordinarien wurden zause-lige Gestalten, die unter ihren Talaren den Muff von tausend Jahren herumschleppten - und daher keine Zeit mehr hatten, sich mit den drängenden Gegenwartsfragen abzugeben wie dem Lebenswert des Leninismus-Marxismus. Ratzinger traf der Umschwung, den er nicht im Mindesten vorausgeahnt hatte, ins Mark. Das war nicht so sehr dem Niedergang des deutschen Ordinarienwesens anzulasten als Selbstvorwürfen: War nicht er selber am Dammbruch ohne Maßen schuld geworden durch seine liberalen theologischen Ideen, seine Autoritätsskepsis und seine Reformvorschläge für die theologische Wissenschaft? Ihm wurde angst und bange. Noch ein Faktum kam hinzu: In seinem Umkreis hatten einige junge Leute sein Gehör und Interesse gefunden, die apokalyptische Ideen vertraten. Die Studentenrevolte bestärkte sie nur noch in ihren Ahnungen. Die Zustände in Welt und Kirche (dort wegen der konziliaren Veränderungen) scheinen ihnen so horrend, dass das Ende schnellstens kommen müsse. Ratzinger ließ sich auf diese wabernden Gedanken ein. öfters besuchte er den Kreis im badischen Bierbronnen, wo sie eine Bildungsstätte aufbauen wollten für die rechte Lehre.

   Die Biographen Ratzingers beschäftigen sich immer wieder mit seiner nachdrücklichen Wende von einem aufgeschlossenen, weltoffenen Denker zu einem streng konservativen, weltmisstrauischen Kirchenführer. An dieser Wende ist er, so muss man heute wohl sagen, gescheitert in dem Moment, da ihm die höchsten und größten Möglichkeiten für die Erneuerung der Kirche in die Hand gegeben wurden. So allerdings gescheitert, dass er damit voraussichtlich epochal Neues eingeleitet hat. Ich denke an den freiwilligen Rückzug aus dem Amt des römischen Bischofs, des Papstes. Doch davon nachher. Jetzt gehen wir der Reihe nach weiter. In seiner Autobiographie hat Ratzinger später geschrieben, er habe in Tübingen die satanische Fratze der Gottlosigkeit erblickt. Diese Umwertung aller Werte, die sich in der Studentenrevolution nach seiner Meinung vollzog, konnte er nicht nur nicht mitmachen, er konnte sie auch nicht mehr ertragen. Für sein Denken war die erste und lebenslang bleibende Reaktion ein massiver Konservatismus. Gegenüber allem Neuen war er hinfort misstrauisch-skeptisch. Es schien immer darauf aus, die bewährten Werte der Vorzeit zu zerstören. An die Stelle des Bleibenden, an dem man sich orientieren kann, trat kontinuierlicher Umbruch. In der berühmten Rede vor dem Konklave von 2005, aus dem er dann als Papst hervorgehen sollte, hatte er mit plastischen Worten vor dem universalen Relativismus in der Welt der Gegenwart gewarnt. In diesem Begriff vereinen sich für ihn alle Antiwerte, die 1968 aufgebrochen waren - mit so fürchterlichen Folgen. Logischerweise kann man dagegen nur durch energisches Festhalten an der Tradition angehen. Unter dieser Perspektive hat man auch die Rückkehr zur alten tridentinischen Messe, wenn auch nur als "außerordentliche Form", zu sehen, die seinerzeit große Verwunderung erregte, zumal sie Hand in Hand mit der Rehabilitation der Bischöfe der Pius-Brüder einherkam. Sie steht für ihn für das unbeirrt Bleibende in der Kirche.

   Vielleicht wird uns an diesem Punkt das Zentrum des Denkens, der Fokus der Theologie des Menschen aus Marktl, der in Pentling seine eigentliche Heimat gefunden hat, einigermaßen zugänglich. Es zeigt sich bereits deutlich in der Antrittsvorlesung von 1956 in Bonn und hat dann über einige Zwi-schenstationen weltweite Aufmerksamkeit in der Vorlesung gefunden, die er am 12. September 2006 hier im Audimax seiner alten Uni gehalten hat. Diese "Regensburger Rede" ist zwar in der medialen Wahrnehmung hauptsächlich wegen des anscheinend unmotivierten Ausfalls gegen Mohammed haf-ten geblieben. Doch der war nicht beabsichtigt, sondern müsste eher auf das Konto Rhetorik abgebucht werden. Im Mittelpunkt stand die Ratzinger lebenslang umtreibende Frage nach dem Verhält-nis von rationalem Denken und geistlichem Glauben. Im Grunde war das auch schon das Problem von Monastik und Scholastik im 13. Jahrhundert, das ihn deswegen so gefesselt hat. Gewiss besitzt der Mensch einen gottgegebenen Verstand, gegeben um die Wirklichkeit zu erforschen. Doch in der Of-fenbarung hat uns der gleiche Gott, der uns zu rationalen Wesen erschaffen hat, einen Wirklichkeitszugang geschenkt, der allein suprarational erfassbar ist. Der Modus dieser Realitätsbewältigung ist der Glaube. Er ist eine Form der Begegnung mit Gott und seiner Wirklichkeit, die im Tiefsten auf der Liebe beruht - als gnadenhafte Liebe auf Seiten des Schöpfers und Erlösers, als hingebendes Vertrau-en auf Seiten des angesprochenen Geschöpfes. Von daher versteht man, dass die Enzykliken seines kurzen Pontifikates sich mit den so genannten göttlichen Tugenden befassen: zuerst und am eingehendsten mit der Liebe, und zwar gleich zweimal (Deus caritas est, 2005; Caritas in veritate, 2009), dann mit der Hoffnung (Spe salvi, 2007)). Erst nach dem Ende seiner Amtszeit, nominell verantwortet von seinem Nachfolger Franziskus, kam im Jahr 2013 das Lehrschreiben über den Glauben (Lumen fidei) heraus. Bis auf den Schlussteil stammt der Text von Benedikt. Ein Urheber aller Wirklichkeit, zwei Wirklichkeitserkenntnis-Möglichkeiten in offenbar hierarchischer Stufung, zwei unterschiedene Möglichkeiten - die Konflikte sind vorgegeben. Am folgenreichsten: Wenn es solche Konflikte, vor allem wenn es Widersprüche zwischen den Erkenntnismöglichkeiten gibt, wer entscheidet dann, wel-cher Potenz soll man folgen soll. Soll man, muss man eher Glauben schenken oder doch besser das Wissen einsetzen? Wenn aber doch beide gleichwertig, gleichen letztlich göttlichen Ursprungs sind? Das sind alles andere als Gelehrtenfragen, Beschäftigungen der Bewohner des elfenbeinernen Turms. Jeder kennt die schweren und schwere Wunden heute noch zurücklassenden Auseinandersetzungen zwischen der Theologie einerseits, der Naturwissenschaften und der Technik andererseits. über die Möglichkeit als Christ die Evolutionstheorie zu verteidigen, liegen sich die Amerikaner massenhaft in den Haaren; aber auch in Europa kann das Thema Emotionen aufkochen lassen. Ratzinger spricht sich sehr klar für die Gleichberechtigung und Gleichbedeutung von Glaube und Wissen aus, doch wenn es Spitz auf Knopf kommt, gibt er dem Glauben doch die letzte Urteilsfähigkeit. Angeleitet und bestimmt aber wird er natürlich durch das Lehramt der katholischen Kirche, damit aber die Tradition, die es verteidigt und auslegt. Ist aber dann nicht dieses und nicht wirklich die Glaubenskraft der Christenmenschen Oberprinzip der Denkleitung? Und wie kann dann das Neue sich Geltung verschaffen, wenn dessen Wahrheitsgehalt vom Lehramt (noch) nicht erkannt wird? Das Thema bleibt auf der Tagesordnung, freilich nicht auf der unseren hier und jetzt.

   In Tübingen kehrten sich anno 1968 die Studenten wenig um die Denkleidenschaft ihres Dogmatikers. Ein Jahr vor der Revolution hatte er noch eine begeisternde Vorlesung für die Hörerinnen und Hörer aller Fakultäten gehalten. Sie war ins Audimax verlegt worden, den größten Hörsaal, und wurde per Funk - mit dem Fernsehen war man noch nicht ganz so weit - in die platzreichsten Säle des ganzen Hauptgebäudes der Uni übertragen. Die jungen Leute saßen, wo immer es ging: auf dem Fußboden, auf den Treppen, rings ums Katheder. Sie lauschten gespannt dem Professor, der da mit hoher Stim-me eine subtile Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses vorlegte. Sie ist dann unter dem Titel "Einführung in das Christentum" erschienen und in alle Kultursprachen übertragen worden. Kein Buch Ratzingers hat je so viel Erfolg gehabt wie dieses. Es ist immer noch auf dem Markt. Doch das alles war kaum ein Jahr danach wie vom Winde verweht. Es war ein veritabler Sturmwind, der da tobte. Für Ratzinger bot sich aus diesem Inferno, so hat er es erlebt, ein unerwarteter Ausweg. 1968 war die neue Universität an der Donau eröffnet worden. Selbstverständlich sollte sie eine Katholisch-Theologische Fakultät bekommen. Es waren auch die besten Voraussetzungen da. Wie in allen bayerischen Bischofsstädten gab es auch in Regensburg eine staatseigene Philosophisch-Theologische Hochschule, die der Priesterausbildung verschrieben war. Doch während man anderswo das alte Kol-legium einfach in die neue Uni übernahm, entschied man sich hier für eine vollständige Neuberufung auf die herkömmlichen Lehrstühle, zu denen aber auch einige ganz neue kommen sollten. Einer da-von war als Lehrstuhl für Judaistik konzipiert. Dieses Fach hatte ein neues Interesse im Zug der Neu-orientierung der Kirche und ihrer Theologie auf die eigenen Wurzeln gefunden. Die anderen Ordinariate hatten sehr bald eine Besetzung gefunden, dieses noch nicht. Als ruchbar wurde, dass Joseph Ratzinger Tübingen den Rücken kehren wollte, bot man ihm sofort an, als zweiter Dogmatiker neben Johann Auer, einen Urregensburger, auf den noch freien Lehrstuhl zu kommen. Er ließ sich das nicht zweimal sagen. Die Judaistik musste mit einem Lehrbeauftragten auskommen.

   1969 zog er an die Donau. Er fand ein erstes Domizil in der zu jener Zeit noch klitzekleinen Stadtrand-gemeinde Pentling, in dem großen Mietshaus am Parkplatz an der Hölkeringer Straße. Im Zuge der Berufungsverhandlungen hatte Ratzinger sich ausbedungen, dass ich sein Lehrstuhlassistent werden könne. Zusammen mit meinem Kollegen Siegfried Wiedenhofer, auch er bald Bürger in der Siedlung von Pentling, und einigen Hilfskräften schleppten wir die vielen Bücher unseres Chefs in die neue Wohnung. Ich tat mich zuerst etwas schwer, eine geeignete selbständige Bleibe zu finden und zog es daher vor, zunächst im Priesterseminar am Regensburger Bismarckplatz ein Zimmer anzumieten. Erst 1970 gelang es mir, eine Wohnung in Großberg zu finden - das war zu jener Zeit noch eine eigenständige Kommune, aber doch schon ganz in der Aura Pentlings. Endgültig bin ich dann ins ursprüngliche Gemeindegebiet 1978 gezogen; nach einigen Jahren in Bochum war ich damals auf einen der Dogmatiklehrstühle berufen worden. Ich fühle mich jedenfalls seitdem endgültig als dessen Bürger - was mir Benedikt XVI. eigens und öffentlich bescheinigt hat, damals bei der unvergesslichen Audienz im September 2006. Es war klar, dass die Kontakte zu Ratzinger in Regensburg nicht mehr so innig sein würden wie noch in Tübingen: Wir hatten sozusagen keine private Schnittmenge mehr, sondern verkehrten auf dienstlichem Niveau, das freilich an nahezu jedem Tag. Gleichwohl lud er mich viele Male ins neue Haus an der Bergstraße ein, das er sich alsbald erbaute und schon 1970 bezog. Es war der steingewordene Ausdruck für seine feste Absicht, nach so langen Jahren akademischer Wanderschaft endlich einen archimedischen Lebenspunkt zu finden. Es gibt kaum einen Theologen in Deutschland, der insgesamt relativ weniger Jahre gleich fünf Lehrstühle nacheinander besetzt hätte. Bei ihm waren es Freising (ganz am Anfang noch als Fundamentaltheologe), Bonn, Münster, Tübingen und nun zu guter Letzt eben Regensburg. So überführte er auch seine Eltern auf den Ziegetsdorfer Friedhof (den Pentlinger gab es noch nicht). Zu guter Letzt - das freilich erwies sich als Fehlschluss. Der Mensch denkt, Gott lenkt.

   Vorerst aber nahm der neue Dogmatiker mit Verve und Leidenschaft seine neue Aufgabe wahr. Man merkte ihm unschwer die Erleichterung an, dass er das in einem wesentlich ruhigeren Fahrwasser als bislang tun durfte. Sicher war Regensburg damals nicht so weit von der Weltwirklichkeit entfernt, dass man von den Studentenunruhen nur aus der Zeitung etwas erfuhr, aber vergleichsweise blieben die erdverwachsenen Oberpfälzer wesentlich gelassener als die umtriebigen Schwaben. Die junge Fakultät erwies sich sofort als Magnet. Rasch sammelten sich um Ratzinger zahlreichende Studieren-de, auch einige Damen, aus nahezu aller Herren Länder. Sie wollten bei ihm promovieren oder habilitieren, also ihre akademischen Qualifikationsschriften erarbeiten, oder auch ganz einfach seine Vorlesungen hören. Daraus hat sich der berühmte Schülerkreis gebildet, der heute knapp 50 Gelehrte und Kirchenleute aus sämtlichen Kontinenten umfasst. Sie haben inzwischen jeder einzelne eine hohe Zahl von Tagen erreicht und werden nun gleichsam ergänzt durch den "neuen Schülerkreis". Das sind jüngere Wissenschaftler, die natürlich nicht mehr echte Ratzinger-Schüler sein können, aber im Geist seines Denkens arbeiten möchten. Die Geschichte dieses Zirkels beginnt mit dem Brauch, einmal jährlich eine Exkursion zu veranstalten, meist zu einem berühmten auswärtigen Theologen wie Karl Barth oder Hans Urs von Balthasar. Als Professor Ratzinger 1977 als Münchener Erzbischof die cathedra magistralis, die Lehrkanzel an der Uni, verlassen musste, lud er in den folgenden Jahren die nun ehemaligen Schüler nach wie vor ein, nicht mehr an die Donau, sondern an wechselnde Orte im deutschsprachigen Raum. Der Kardinal behielt diese Sitte bei. Auch als Papst legte er auf die Treffen des Schülerkreises Wert und empfing jeden August für ein langes Wochenende in Castel Gandolfo, der Sommerresidenz oberhalb des Lago di Albano. Jetzt, nach dem Rücktritt empfängt er seine Gäste im neuen Wohnkloster "Maria Mater Ecclesiae" in den Gärten des Vatikans. Es handelt sich bei den Schülertreffen im Grund um Oberseminare auf höchstem Niveau, deren Leiter nun eben der Professor Doktor Papst ist - eine Rolle, die er mit sichtbarem Behagen spielt. Auch da kreisen die Diskussionen selbstredend auch immer wieder um das zentrale Lebensthema des Meisters. Aus den Symposien sind mehrere Publikationen entstanden.

   Die Daten der Vita Ratzinger nach Regensburg sind bekannt; bekannt nicht nur uns hier; sondern mehr oder weniger der ganzen Welt: Nur wenige Jahre kann Joseph Ratzinger auf dem Stuhl des hl. Korbinian bleiben, dann ruft ihn Johannes Paul II. an seine Seite als Präfekten der wichtigsten vatika-nischen Behörde, der Congregatio de Doctrina fidei, der Glaubenskongregation. Er kommt zwar immer wieder einmal nach Pentling. Nicht nur um auszuspannen: Schließlich müssen ab und zu Feuerwehrfahrzeuge eingeweiht werden. Doch sein eigentlicher Wirkungsort ist nun der Palazzo del Sant' Uffizio, gleich südlich vom Petersdom. Jeden Morgen gegen neun Uhr zieht er von seiner Woh-nung, ebenso nahe an der Basilika, bloß im Norden gelegen, zu Fuß über die gewaltige Piazza, unterm Arm eine abgewetzte Aktentasche, die ehedem schon die Vorlesungsmanuskripte von H 4 an der Uni Regensburg verwahrt hatte. Zehn Minuten später beginnt sein Tagesgeschäft - vor allem anderen die Zuarbeit für den Papst. Dieser ist kein Fachtheologe - er war Philosophieprofessor. In dem Bayernkardinal hatte er einen Mann gefunden, der das, was ihm abging, vollkommen ersetzte, der zugleich jedoch auch die kirchenkonservative Programmatik des Polen ebenso perfekt teilte. Beider Denken speiste sich gewiss aus unterschiedlichen Wurzeln: Der eine hatte das demokratische Chaos erlebt, der andere die kommunistische Gewalt. Liefen sie nicht per Saldo aufs nämliche hinaus? Doch die differierenden Erlebniswelten zeitigten auch unterschiedliche Verwirklichungstendenzen bei den beiden Männern. Woiti?a war von einem vehementen Freiheitsbewusstsein beseelt, das ihn in der politischen Szene zum bedeutendsten Verteidiger der Menschenrechte gegen die rote Gewalt machte. Er meinte aber, seinen Kampf nur dann gewinnen zu können, wenn er aus der Kirche eine geschlossene Formation machte, genauso im Grund geschlossen wie die gegnerische Seite. In der Nachkonzilszeit sah er eine binnenkirchliche Auflösung, der zu wehren war. Diese Aufgabe war Ratzinger auf den Leib geschrieben: Die existentiellen Tübinger Verwundungen machten den ursprünglich denkaufgeschlossenen Professor zum dezidierten und rigorosen Verfechter einer strengen Lehr- und Lebensdisziplin, also genau zu dem, was der Papst anstrebte. Die ausgehenden Jahre des letzten Jahrhunderts brachten zahlreiche vatikanische Dekrete aus diesem Geist. Die meisten davon hat Ratzinger konzipiert, alle in die letzte Form gebracht. Diese war dann für gewöhnlich etwas differenzierter und perspektivenreicher als das Lineardenken des Polen. In Deutschland eskalierten die daraus erwachsenden Auseinandersetzungen in der Frage der Schwangerschaftskonfliktsberatung. Während nahezu alle deutsche Bischöfe in dem vom Gesetz vor der eventuellen Abtreibung vorgeschriebenen Gespräch eine wirksame Weise des Lebensschutzes und der diesbezüglichen kirchlichen Einwirkung erblickten, lehnte Rom sie als nicht eindeutig das Ziel der Kirche vertretend mit Nachdruck ab. Eigentlich war es nur eine Methodenfrage, denn hinsichtlich der Position des unbedingten Lebensschutzes gab es nicht die kleinste Differenz. Dennoch: Der Kardinalglaubenspräfekt blieb Im Gespräch mit seinen Mitbischöfen unerbittlich hart. Diese eiserne Konsequenz, die in allen seinen amtlichen Verlautbarungen durchscheint, trug ihm den Namen "Panzerkardinal" ein. Er stimmt sicher nicht: Ratzinger ist kein Iron Man, sondern ganz im Gegenteil sehr empfindsam, manchmal fast zärtlich. Doch ist er nie mehr über das in Tübingen erstandene Grundmisstrauen hinweggekommen.

   Es hat, darf man heute wohl fundiert sagen, auch den nicht unbedingt erwartbaren, doch sehr überschaubaren Pontifikat des Pentlingers auf dem Papststuhl wenigstens weitgehend mitbestimmt. Haben Sie gedacht, dass er einmal so weit kommen wird? So bin ich oft gefragt worden. Ursprünglich sicher nicht: Mir war bekannt, dass er sehnsüchtig auf das Ende seiner römischen Arbeitsjahre wartete. Er wollte in sein geliebtes "Häusel" auf der Bergstraße zurückkehren, um dort den einen oder anderen Nachmittag zusammen mit Bruder Georg und Schwester Maria durch Pentlings Fluren spazieren gehen zu können, in gesunder Unterbrechung zur Arbeit am Schreibtisch; er hatte noch manches große theologische Werk in petto. Ab einem bestimmten Zeitpunkt schien ihm auch der Tiber ebenso schön wie die Donau: Aber nur, weil er die vielen Bücher nicht noch einmal über die Alpen transportieren wollte. Doch Papst? Gewiss nicht. Mit dem qualvollen Tod seines Herrn 2005 schienen die Jahre des Ruhestandes für den getreuen Diener anzubrechen - hoch verdient in jedem Fall. So argumentierte ich bei meiner Antwort. Dann sah ich im Fernsehen das Pontifikalrequiem für Johannes Paul II., dem Ratzinger vorstand. Da wurde mir mit einem Schlag klar: Der wird noch sein Vorgänger!
Als kurze Zeit danach das Konklave stattfand, war ich in Halle an der Saale, wo ich das Institut für Katholische Theologie an der Martin-Luther-Universität aufbauen sollte. Nach einem vorlesungsreichen Tag im April wollte ich ein wenig pausieren, ehe ich mich an den nächsten Punkt des Tagesprogramms machte. Zur Entspannung schaltete ich den Fernseher in meinem Gastzimmer an - und sah den weißen Rauch! Dann überschlugen sich die Dinge, die wir alle wohl noch so gut im Gedächtnis haben, dass ich sie nicht zu repetieren brauche. Ich konnte gerade noch in Pentling anrufen: Lasst die Glocken läuten. Da kam schon der Mitteldeutsche Rundfunk, der in Halle residiert, und erbat ein Interview, das erste von Dutzenden in den kommenden Wochen. Die ersten Veranstaltungen der politischen Gemeinde Pentling, in bester Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde St. Johannes, wurden vorbereitet und begannen zu laufen - so wie es nun wieder geschieht, ein Dezennium danach.
Wohl der unbestrittene Höhepunkt dieser ersten Zeit war die große Audienz, die der Pentlinger Ehrenbürger Benedikt seiner Wohn- und Lebensgemein-de am Fest Mariä Geburt, am 08. September 2005, in Castel Gandolfo gewährte. Damals waren an die neunzig Vertreter aus der politischen und der kirchlichen Gemeinde in die Sommerresidenz gekommen - zu einem unvergesslichen Erlebnis. Kurz zuvor hatte der Papst das spanische Königspaar empfangen - für genau 20 Minuten. Bei seinen Pentlingern blieb er fast zwei Stunden. Die Zusammenkunft hob mit einer Messe an, bei der ich konzelebrieren durfte. Sie sollte eigentlich in der Hauskapelle stattfinden, doch erwies sich diese als zu klein. Kurzerhand funktionierte das vatikanische Personal den dorthin führenden breiten Gang zur Behelfs-Kirche um. Anschließend wurde die ganze Gruppe in die Sala degli Svizzeri, den größten der dortigen Säle, gebeten. Der Papst und ich warteten in der Sakristei, bis alle den Raum gewechselt hatten. Er zeigte mir seine Gemächer. In einem Raum stand der Schreibtisch, an dem sein Namensvorgänger Benedikt XIV. im 18. Jahrhundert gewirkt hatte - ein erstaunlich kleines Möbel. Darüber zeigte ihn ein Ölgemälde: Er spazierte gerade durch die Rom und nahm von einem Mann eine Bittschrift entgegen - ganz ohne Leibwächter und großes Gefolge. "Das kann ich mir heute nicht mehr leisten", meinte der sechzehnte Benedikt - und es klang ziemlich traurig. Dann begann die Begegnung mit seinen Pentlingern. Niemand wird sie vergessen, der damals mit dabei war. Es war ein durch und durch familiäres Treffen, fast wie bei Kaffee und Kuchen. Benedikt erzählte von seinen Anfängen in Pentling. Dass er der eigentliche Namensgeber der Bergstraße gewesen ist. Wie er sich eingelebt hatte. Dann durften die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einzeln zu ihm kommen. Ich stand protokollgemäß als Delegationsleiter rechts neben dem Papst: Mit einer beneidenswerten Leichtigkeit und Eleganz sprach er mit den jungen und alten Menschen, die da nahe wie nie vor einem Papst standen. Viele kannte er, meistens knüpfte er an eine frühere Begegnung, an ein gemeinsames Erlebnis vor langen Jahren an. Unter den Teilnehmern waren auch zwei niedliche kleine Mädchen, so an die zehn oder elf Jahre. Die waren vor der Audienz ganz zappelig vor Aufregung, weil sie bald mit dem Heiligen Vater reden dürfen sollten. Dann war es auch für sie so weit. Es dauerte keine zwei Sekunden und dieser hatte den werdenden Backfischchen alle Befangenheit genommen. Sie unterhielten sich wie mit einem guten Vater mit ihm. Der hätte wohl noch länger mit uns gesprochen, doch da erschienen jäh zwei Hofleute, die ihn - fast hätte ich gesagt: abführten, zurück in seine Gemächer. Die Pentlinger Audienz war übrigens der letzte große Empfang Benedikts. Mit Rücksicht auf seine Gesundheit und die Masse der Arbeit wurde inskünftig nur mehr Staatsgästen die Ehre einer persönlichen Begegnung im kleinsten Zirkel zuteil.

   Die Gesundheit - Benedikt wurde einige Tage nach seinem 78. Geburtstag gewählt. Zeitlebens war er von zarter Beschaffenheit, körperlich nur in Maßen belastungsfähig. Nun brach ein übermaß an Verpflichtungen, Entscheidungen, Aktenstudium, Predigttätigkeit, Reisen und so weiter, und so weiter auf ihn herein. Das hätte wohl auch einen physisch Stärkeren an den Rand der Existenz gebracht. Immerhin stand für 2013 der 86. Geburtstag bevor. Bei Benedikt kam noch eine entscheidende zusätzliche Last zu den physischen Plagen hinzu. Mehr und mehr und bald nicht mehr zu verbergen trat die überforderung zutage, die die seit dem Konzil in der Kirche tobende nahezu schismatische Spaltung zwischen den konziliar-reformerischen und den traditionalistisch-neuscholastischen Denkrich-tungen beim Papst verursachte. Seine eher an der letzteren orientierte Politik missglückte in wachsendem Maß. Stärker als man es außen wahrhaben konnte, nahm ihm vor allem anderen die so ge-nannte "Vatileaks-Affäre" den Lebensmut. Der Kammerdiener Paolo Gabriele war für ihn wie ein Sohn, dem er vertraute wie ein Vater seinem Fleisch und Blut. Umso bitterer wurde er enttäuscht, als sich herausstellte, dass es genau dieser Mann gewesen war, der höchst vertrauliche Dokumente vom päpstlichen Schreibtisch entwendet, kopiert und an Journalisten weitergegeben hatte. Aber das wussten nur ganz wenige. So wirkte es wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, als Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 im Verlauf eines an sich harmlosen Konsistoriums, das eigentlich bloß eine Heiligsprechung vorbereiten sollte, seinen Rücktritt mit Wirkung vom 28. desselben Monats ankündigte - mit kaum hörbarer Stimme, emotionslos, rasch das Manuskript ablesend. Die meisten Kardinäle begriffen erst gar nicht, was sie da hörten. Kein Wunder: So etwas war zum letzten Male ganz und gar freiwillig oder wenigstens weitgehend freiwillig im Dezember 1294 geschehen, als Pietro da Morrone, Papst Cölestin V., nach nur einem halben Jahr das Handtuch geworfen hatte. Dante Alighieri hatte ihn wegen dieses gran rifiuto (große Verweigerung) in die Hölle seiner Divina Comedia verbannt. Darf ein Papst überhaupt sein Amt verlassen, fragten sich die Kardinäle.

    Die Ereignisse überstürzten sich. Sie sind den meisten von uns wohl noch in guter Erinnerung. Die Diskussion um das Warum und Wieso, ja um die Legitimität des Verzichtes, das Vorkonklave, die überraschende Wahl Jorge Mario Bergoglios, dessen erster Auftritt mit einem schlichten Buona sera. Das alles ist nun schon wieder zwei Jahre her. Niemand kann in diesem Moment ein auch nur eini-germaßen definitives historisches Urteil fällen. Dazu sind die Ereignisse noch zu frisch, dafür ist aber auch noch nicht mit der nötigen Klarheit deutlich geworden, was dieser Pontifikatswechsel bedeutet. So viel scheint abzusehen: Er dürfte eine epochale Bedeutung besitzen. Darüber sind sich alle Beobachter einig. Die Römer haben ein ziemlich flapsiges Bonmot: Morto un papa, ne facciamo un altro. Wenn ein Papst weg ist, machen wir uns einen anderen von der Sorte. Das trifft ganz bestimmt im aktuellen Fall nicht zu. Seit vielen Jahrhunderten saßen stets nur Europäer, meistens Italiener, auf der Cathedra Petri. Erstmals ist nun ein Südamerikaner, wenn auch mit italienischen Wurzeln, dort. Das geschieht im gleichen Augenblick, da der alte Kontinent gewaltig an Bedeutung für die Kirche verliert. Sie erlebt einen dramatischen Schwund, während sie in anderen Erdteilen am Blühen ist. In den letzten dreihundert Jahren hat sich ein Riesenstau auf dem Weg der Kirche gebildet, der, allen sichtbar, alle Bewegung zum Stoppen zu bringen droht. War Benedikt XVI. der letzte in der langen Reihe seiner Vorgänger, die in der Vergangenheit das Heil gesehen haben? Oder war er der erste, der rigoros, ohne jedwede Rücksicht auf seine persönlichen Vorlieben und Denkgewohnheiten durch seinen Rücktritt ganz neue Wege erschlossen hat? Sie werden das Papsttum geschmeidiger, zeitnäher, menschlicher, flexibler gestalten - und das hat es bitter nötig. Die Lasten, die der Pontifex zu schultern hat, werden unerträglich schwer. Die Weichenstellungen, die ihm abverlangt werden, haben weit reichende, je heute kaum absehbare Folgen. Wie alle anderen Menschen werden auch die kommenden Bischöfe von Rom den demographischen Veränderungen unterliegen: Sie werden älter, doch nicht unbedingt leistungsfähiger. Ist es dann nicht selbstverständlich, dass sie ihren Platz nicht erst mit dem Tod räumen (müssen)? Ratzinger hat da Markierungen gesetzt, die man nicht mehr unbeachtet lassen kann. Er hat noch etwas anderes getan. Er hat auf der Ebene des Nachsinnens über Gott und sein Heil bislang unbeschrittene Weiten eröffnet. Er hat sie, wie Mose das gelobte Land, selber nicht mehr betreten können, doch er hat sie gangbar gemacht: Es geht um den Dialog, die Spannung, die Fruchtbarkeit der Begegnung von Glauben und Denken. In dem Lebensprozess, in dem Ratzinger seine Konzeption entwickelt und ausgebaut hat, spielt auch seine erklärte Heimat Pentling eine historische Rolle. Ein wenig stolz darauf darf die Papstgemeinde in aller Demut dennoch sein